Warum ist Mathematik in den modernen Finanz- und Wirtschaftswissenschaften eigentlich so wichtig? Schließlich gilt sie vielen Studenten als lästige Pflicht, und während einige Pädagogen mathematisches Denken für eine der herausragenden Leistungen des menschlichen Geistes halten, betrachten andere sie als hoffnungslos überbewertet. Doch an der Mathematik scheiden sich nicht nur die Geister, sondern auch die Wissenschaften. Ihre Anwendung ist eines der wesentlichen Kriterien dafür, ob eine Disziplin als exakte oder harte Wissenschaft eingestuft wird oder das deutlich weniger beliebte Etikett einer weichen Wissenschaft angeheftet bekommt. Als exakt gelten Wissenschaften wie die Physik oder Chemie, die sich quantitativer und mathematischer Methoden bedienen und eigene, strenge Verfahren zur Überprüfung ihrer Hypothesen entwickelt haben. Als weich gelten beispielsweise Sozial- und Geisteswissenschaften, die in der Regel nicht mit solchen Methoden arbeiten. Doch warum ist gerade die Mathematik in diesem Zusammenhang so wichtig? Und warum halten es Wissenschaftler für erstrebenswert, als hart zu gelten?
Ein Grund für die Bedeutung der Mathematik in den Wissenschaften liegt sicherlich in ihr selbst, denn sie verfügt über einen ganz speziellen Reiz. Der britische Philosoph und Mathematiker Alfred North Whitehead hat diesen Reiz einmal in folgende Worte gefasst: „Solange wir es mit reiner Mathematik zu tun haben, befinden wir uns im Reich der vollständigen und absoluten Abstraktion.“ Dieses Reich der absoluten Abstraktion lässt Mathematikern Freiheiten, von denen die meisten anderen Wissenschaftler nur träumen können. Zumindest gedanklich können Mathematiker losgelöst von allen realen Problemen ihre eigene Welt erschaffen und sich damit gottähnlich zu kleinen Schöpfern aufschwingen. Mathematik schafft damit trotz all ihrer formalen Rigidität und Exaktheit eine nahezu konkurrenzlose Freiheit für systematisches Denken. Oder um es noch einmal mit Whitehead zu formulieren: „Geben wir zu, dass die mathematische Spekulation ein göttlicher Wahnsinn des menschlichen Geistes ist, ein Rückzug von der Aufdringlichkeit zufälliger Ereignisse.“
Doch ihre durchschlagenden Erfolge im wissenschaftlichen Betrieb verdankt die Mathematik weniger jener esoterisch anmutenden Forschergemeinde, die sie in ihrer reinen Form betreibt, sondern ihren unterschiedlichen Anwendungen in praktischen Zusammenhängen und in den empirischen und theoretischen Naturwissenschaften, vor allem in der Physik. In dieser Wissenschaft sind Naturforschung und Mathematik zu einer Einheit verschmolzen, die im vergangenen Jahrhundert spektakuläre Erfolge verzeichnet hat. Als Beispiel sei hier nur die Relativitätstheorie erwähnt, die Albert Einstein zu Weltruhm verhalf und zudem zur Entwicklung epochaler Technologien wie der Atombombe und der Kernkraft beitrug. Es waren vor allem die Erfolge der Physik, die den Eindruck erweckt haben, dass harte Wissenschaften die Lösung aller Rätsel dieser Welt versprechen. Bisweilen entstand sogar der Eindruck, dass nur exakte Wissenschaften und ihre streng systematischen Methoden die Erkenntnis allgemein gültiger, objektiver Wahrheiten ermöglichen. Der Weg zur Wahrheit schien über die Mathematik zu führen. Und warum sollten ausgerechnet Finanz- und Wirtschaftswissenschaftler einer solchen Versuchung widerstehen können?
Erstmals erschienen in pvm11 (Dezember/Januar 2014/15)