Lesezeichen: Die Narren der Märkte

„Liar´s Poker“ von Michael Lewis gilt mittlerweile als ein Klassiker der populären Finanzliteratur. Das Time Magazine bezeichnete das Buch als „Pflichtlektüre für Wall-Street-Banker“. Doch auch und gerade für Investoren gibt es gute Gründe, es zu lesen.

„Törichte Kunden (die Narren im Markt) waren ein wunderbares Asset“, schreibt Michael Lewis in seinem 1989 erschienenen Buch „Liar´s Poker“, das von seinen Lehr- und Arbeitsjahren in der Investmentbank Salomon Brothers handelt. Erfrischend direkt und verständlich schildert Lewis seine Wandlung vom ahnungslosen „Geek“ zum „Big Swinging Dick“ – eine Bezeichnung, mit der die besten Rentenhändler der Bank sich damals gerne brüsteten. Salomon Brothers war seit den 1970er Jahren eine der weltweit größten Investmentbanken und eine der wichtigsten Adressen im Handel mit US-Anleihen. In den 1980er Jahren entwickelten Salomon-Mitarbeiter die ersten mit US-Immobilien besicherten Anleihen, die als „Mortgage Backed Securities“ oder kurz „MBS“ auch in den neudeutschen Fachjargon eingegangen sind.

Das Buch schildert auf eine erschreckend unterhaltsame Weise, wie Trader und Anleihenverkäufer denken und agieren, worin die spezielle Kultur an Wall Street besteht und welche Rolle Investoren darin spielen. „Rentenhändler neigen dazu, jeden Handelstag so zu agieren, als wäre es ihr letzter“, schreibt Lewis. Diese kurzfristige Einstellung ermögliche es ihnen, die Schwächen ihrer Kunden auszunutzen, ohne sich um die langfristigen Auswirkungen auf die Kundenbeziehungen zu sorgen. Gerade ein verzweifelter Verkäufer sei immer in einer schwachen Position, aus der Händler Vorteile ziehen können.

Lewis erhebt keinen moralischen Zeigefinger, klagt nicht an und ordnet die handelnden Personen nicht in simple Schwarz-Weiß-Muster ein, sondern beschreibt offen und frei heraus, was er in seiner Zeit bei Salomon erlebt, gedacht und getan hat. In dem für Investoren wahrscheinlich interessantesten Kapitel „From Geek to Man“ schildert er, wie er in der Londoner Niederlassung der Investmentbank „seine Unschuld verloren“ hat und schließlich zu einem erfolgreichen Anleihenverkäufer, einem echten „Big Swinging Dick“ geworden ist. Dabei habe Salomon billigend in Kauf genommen, dass er zunächst Vermögen einiger kleinerer Kunden vernichtete: „Man ging davon aus, dass ich ein oder zwei Kunden aus dem Geschäft nehmen würde. Das gehörte dazu, ein Geek zu sein.“

Während seiner ersten Monate in London plagte Lewis das Gefühl, ein Scharlatan zu sein: „Ich habe Kunden hochgehen lassen. Ich hatte keine Ahnung. Ich hatte niemals Geld verwaltet. … Dennoch habe ich mich als großen Experten in finanziellen Angelegenheiten ausgegeben.“ Er habe Kunden geraten, wie sie Millionen US-Dollar anlegen sollten, obwohl „die größte finanzielle Herausforderung, mit der ich je konfrontiert war, ein Überziehungskredit in Höhe von 325 Dollar auf meinem Konto bei der Chase Manhattan Bank war. Die einzige Tatsache, die mich in diesen frühen Tagen bei Salomon in einem Kundengespräch nach dem anderen gerettet hat, war, dass die Leute, mit denen ich verhandelt habe, sogar noch weniger wussten.“

Grundsätzlich haben ihm seine europäischen Kunden die Arbeit offenbar nicht allzu schwer gemacht, weil die meisten vermeintlichen Investoren „reine Spekulanten und die übrigen nicht ganz so reine Spekulanten“ gewesen seien. „Wenn es um Spekulation ging, benötigten europäische Investoren keine größere Ermunterung oder Anleitung“, erinnert sich Lewis. Besonders Franzosen und Engländer hätten eine Schwäche für Konzepte, die schnellen Reichtum versprachen.

Lewis erster Kunde war Herman, „ein großer, barscher Deutscher mit einer unglaublich tiefen Stimme und der ausgeprägten Überzeugung, dass er zum Traden geboren war“. Herman arbeitete für die Londoner Niederlassung einer österreichischen Bank und hatte „lediglich ein paar wenige Millionen Dollar zum Spielen“, weswegen kein anderer Mitarbeiter des Londoner Salomon-Büros sich mit ihm befassen wollte. „Der arme Herman hat nie verstanden, was ihm widerfuhr“, erinnert sich Lewis. „Er hielt sich für ausgesprochen smart. Es war mein Job, ihn in dieser Ansicht zu bestärken, denn je smarter er sich fühlte, desto mehr würde er traden, und je mehr er handelte, desto mehr Geschäft könnte er mir anvertrauen.“ Trotz seiner vermeintlichen Cleverness sei Herman unfähig gewesen, den Geek zu erkennen, der ihm gegenüber saß. Schließlich kaufte er für drei Millionen Dollar verlustreiche Eurobonds, die ein Salomon-Trader bereits seit Monaten loswerden wollte, und Short-Positionen auf 30-jährige US-Staatsanleihen. Bereits am folgenden Tag hatte Herman mit den Bonds einen Verlust von etwa 60.000 Dollar erlitten und der Geek Lewis war ein kleiner Held, weil er diesen Verlust (ohne davon zu wissen) aus den Salomon-Handelsbüchern in das Portfolio eines Kunden transferiert hatte.

Einen Großteil seines Arbeitslebens bei Salomon habe er damit verbracht, Lügengeschichten zu erfinden. „Wer eine gute Geschichte erzählen kann, kann davon als Broker gut leben“, schreibt Lewis. Tatsächlich wisse in den meisten Fällen niemand, warum sich Märkte gerade in die eine oder andere Richtung bewegen. Es habe zu seinen Aufgaben gehört, sich Gründe aus den Fingern zu saugen und „überzeugendes Seemannsgarn zu spinnen. Und es ist erstaunlich, was die Leute alles glauben.“

Wer möchte, kann in „Liar´s Poker“ auf unterhaltsame Weise einiges lernen über Investmentbanken, Anleihenmärkte, das Geschäft mit Schulden, Hypothekenanleihen und Junk Bonds, Derivate und Unternehmensübernahmen, sowie über die Kultur und die Menschen an Wall Street. Für Investoren, die Aktien und Anleihen für ihre Zwecke nutzen wollen, erscheint eine von Lewis Erfahrungen besonders hilfreich: „In jedem Markt wie in jedem Pokerspiel gibt es einen Narren.“ Der scharfsinnige Investor Warren Buffet habe einmal gesagt, dass ein Marktteilnehmer, dem dieser Narr nicht bekannt sei, wahrscheinlich selbst der Narr in diesem Markt ist. Die Anleihenhändler bei Salomon wussten über Narren Bescheid, weil es ihr Beruf war: „Die Märkte zu kennen heißt die Schwächen anderer Marktteilnehmer zu kennen.“

 

(Dieser Artikel basiert auf der 2006 bei Hodder & Stoughton erschienenen Taschenbuchausgabe von „Liar´s Poker“.)

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