Wer hat Angst vorm schwarzen Schwan?

Woran denken Sie spontan, wenn Sie „schwarzer Schwan“ lesen? Sollten ihnen dabei Begriffe wie Extremrisiken, Risikomanagement, Unsicherheit oder Zufall im Kopf herumschwirren, haben Sie sich in jüngerer Vergangenheit möglicherweise zu viel mit populärwissenschaftlicher Lektüre zum Thema Risiko beschäftigt. Solche Literatur ist auch bei Vermögensverwaltern und Portfoliomanagern während der jüngeren Krisen an den Finanz- und Kapitalmärkten sehr populär geworden, und seit den Bestsellern von Nassim Taleb über die Schwierigkeiten der Menschen im Umgang mit Wahrscheinlichkeiten und Unsicherheit sind schwarze Schwäne in der Finanzbranche zu einem Synonym für höchst unwahrscheinliche und in diesem Sinne extreme Risiken geworden. Doch bei genauerem Hinsehen sind die meisten Risiken, über die in diesem Zusammenhang geredet und geschrieben wird, genauso wenig extrem wie schwarze Schwäne gefährlich sind.

Ein wichtiger Grund für weit verbreitete Fehleinschätzungen liegt in Verwechslungen von Modellvorstellungen mit der Wirklichkeit. Hierfür sind vor allem Wissenschaftler und Praktiker anfällig, in deren Arbeitsbereichen mathematische Modelle verfügbar sind, die Risiken erklären und ein Risikomanagement ermöglichen sollen. Ein gutes Beispiel hierfür liefert die Portfoliotheorie mit ihrem Standardmodell nach Harry Markowitz. Dass dieses Standardmodell die Wahrscheinlichkeiten großer Kursbewegungen deutlich unterschätzt, ist nicht erst seit der jüngsten Finanzkrise bekannt. Wie weit Wirklichkeit und Modell in diesem Fall auseinander liegen können, lässt sich am Beispiel des Dow Jones Aktienindex gut veranschaulichen: Dieser Index hat zwischen 1916 und 2013 an 390 Handelstagen um mehr als 4,5 Prozent über oder unter seinem Schlussniveau vom Vortag geschlossen. Nach dem Standardmodell sollten derart starke Indexveränderungen dagegen lediglich an sieben Tagen vorgekommen sein. Indexveränderungen um mehr als sieben Prozent, die gemäß dem Modell nur einmal in rund 300.000 Jahren vorkommen sollten, hat es in diesem Zeitraum tatsächlich an 53 Tagen gegeben.

Grundsätzlich ist das kein großes Problem, solange man sich der Rolle, der Funktion und vor allem der Grenzen von Modellen bewusst ist und entsprechend mit ihnen umgeht. Im Alltag lässt sich jedoch häufig ein interessanter Wechsel der Perspektive beobachten: Anstatt Diskrepanzen zwischen eigenen Prognosen und der Wirklichkeit auf Mängel der verwendeten Modelle zurückzuführen, beginnen Fachleute, die Wirklichkeit auf Basis dieser unzureichenden Modelle neu zu interpretieren. Im oben erwähnten Beispiel werden dann starke Kursbewegungen des Dow Jones zu „Extremrisiken“ erklärt, weil sie nach den verwendeten Modellen äußerst selten vorkommen sollten. Dass die Wirklichkeit anders aussieht und solche Ereignisse historisch keineswegs außergewöhnlich sind, spielt keine Rolle – die Realität wird auf Basis der Modelle interpretiert. Wachsende Diskrepanzen zwischen Modell und Wirklichkeit erscheinen als Zunahme extremer Ereignisse und führen tendenziell zu einer Dramatisierung der Wirklichkeit anstatt zu einer Hinterfragung der Modelle. Wenn Unerwartetes und Überraschendes geschieht, hat sich die Welt verändert, nicht das Modell versagt. Jede Krise deutet dann auf eine immer gefährlichere und riskantere Welt hin, in der es plötzlich von schwarzen Schwänen wimmelt.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Veränderungen der Welt und des menschlichen Verständnisses von der Welt können durchaus dazu führen, dass neuartige Risiken auf der Agenda erscheinen oder bekannte Risiken völlig anders bewertet werden müssen. Aber keine der großen Finanz- oder Wirtschaftskrisen, die in den vergangenen Jahren die Öffentlichkeit in Atem gehalten haben, lässt sich auf Risiken zurückführen, mit denen man nicht hätte rechnen können. Das gilt für den Boom der Internet-Aktien Ende des vorherigen Jahrhunderts ebenso wie für die Subprime-Krise in den USA, die darauf folgende Weltwirtschaftskrise oder die Euro-Krise. In all diesen Fällen gab es frühzeitig warnende und mahnende Stimmen. Auch die großen ökologischen und demographischen Herausforderungen, denen sich die Menschheit stellen muss, werden seit Jahrzehnten öffentlich diskutiert.

Beim Umgang mit Risiken sollten Investoren deshalb die wirklich relevanten Fakten und Faktoren im Auge behalten. Wie werden sich die Rahmenbedingungen für menschliches Leben und Wirtschaften durch demographische Entwicklungen, Globalisierung und technologische Neuerungen verändern? Zur Beantwortung solcher Fragen ist es hilfreicher, Lehren aus der Geschichte zu ziehen, anstatt sich auf vermeintlich exakte wissenschaftliche Risikomodelle zu verlassen, die oft nicht mehr liefern als gefährliche Kontrollillusionen. Statt sich in der Hoffnung auf tief greifende Erkenntnisse allzu viele Gedanken über schwarze Schwäne zu machen, dürfte es lohnender sein, über praktische Erfahrungen anderer Menschen im Umgang mit Risiken nachzudenken – zum Beispiel über folgende Sätze des Profi-Kletterers und Bergsteigers Alexander Huber: „Risikomanagement basiert auf Umgang mit der Angst, egal ob im Sport, in der Wirtschaft, im Leben. Das betrifft nicht nur mich, sondern jeden, der wichtige Entscheidungen trifft.“


Ergänzender Artikel (PDF):
Das Salz in der Suppe des Lebens

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