Ist Mario Draghi Schuld an der hohen Volatilität?

Sie ist wieder da, und offenbar furchteinflößend wie eh und je. „Wer ist schuld an der Volatilität?“ war die Leitfrage eines Mitte Mai 2016 veröffentlichten Makroausblicks von Lukas Daalder, dem CIO von Robeco Investment Solutions. Dort ging er auf Behauptungen und Thesen ein, die seit Anfang dieses Jahres die öffentlichen Diskussionen über die zuletzt wieder stärkeren Kursschwankungen an den weltweiten Aktienbörsen beherrschen. In geradezu aufklärerischer Manier bezeichnete er den Glaubwürdigkeitsverlust der Notenbanken, niedrige Zinssätze und spezielle Handelsstrategien als „Sündenböcke“. All diese Faktoren spielten wahrscheinlich eine Rolle, man dürfte sie aber „nicht einfach für die gesamte Volatilität in den letzten Monaten verantwortlich machen“. Statt es bei dieser beinahe salomonischen Äußerung zu belassen, fügte er eine weitere Erklärung hinzu: Es handele sich um „eine natürliche Volatilitätszunahme, die mit der Spätphase der Erholung globaler Aktien in Verbindung steht“. Diese Auffassung ist populär, aber sie ist Unsinn. Erstens nimmt Volatilität in keinem Sinn zu, den irgendein seriöser Wissenschaftler als „natürlich“ anerkennen würde. Zweitens begründet ein Anstieg der Volatilität in bestimmten Marktphasen noch keinen kausalen Zusammenhang, der als befriedigende Erklärung dienen könnte.

Schwankungen der Preise sind die Konsequenz freier und liquider Märkte, deren Preisbildung vor allem durch Angebot und Nachfrage bestimmt wird. An Aktienmärkten sind sie ein unmittelbarer Ausdruck der sich ändernden Bereitschaft unterschiedlicher Marktteilnehmer, Aktien zu kaufen und zu verkaufen. Volatilität ist insofern eine Folge der diversen Meinungen, Ziele und Motivationen ganz unterschiedlicher Marktakteure. Anders gesagt: Die komplexen und kaum vorhersehbaren Schwankungen der Kurse an Aktienmärkten resultieren aus der Vielfalt der Marktteilnehmer und ihrer Freiheit, ihre je eigenen Ziele auch einmal zu ändern.

Dabei spielt es keine Rolle, ob ein Investor langfristig in eine Aktiengesellschaft investieren oder Kursgewinne realisieren möchte, ob ein Indexfondsmanager Aktien kauft, weil er Kundengelder investieren muss, oder ob ein Hedgefonds Anteile an einer Gesellschaft erwirbt, um Einfluss auf deren Management zu gewinnen. Es ist egal, ob ein Spekulant Short-Positionen eindeckt, ob ein Unternehmen sich für einen Übernahmeversuch eines Konkurrenten positionieren will, ob ein Emittent von Derivaten Aktien zur Absicherung für eigene Anlageprodukte erwirbt, ein Marktmacher Aktien verkauft, weil er einen verbindlichen Verkaufskurs gestellt hat oder ein Finanzmarkt-Cowboy versucht, Aktienkurse zu manipulieren. Es gibt unzählige Motive und Ziele, mit denen Akteure an den Aktienmärkten handeln. Hinzu kommt eine Vielzahl von Regeln, die den Börsenhandel zivilisieren und vor Manipulationen schützen sollen. Und schließlich ist da der zunehmende Einfluss computerbasierter Handelsalgorithmen, die mittlerweile offenbar teils so intelligent geworden sind, dass selbst ihre Programmierer deren Aktivitäten nicht mehr nachvollziehen können.

Die tieferen Gründe für Marktschwankungen sind so vielfältig und komplex wie die Motive und Ziele der Marktakteure. Insofern wäre es vermessen, sie leichthin erklären zu wollen. Die Situation wird nicht besser, wenn sogar Experten die Suche nach Erklärungen für höhere Volatilitäten moralinsauer zu einer Schuldfrage stilisieren. Es hilft nicht weiter, einfache Antworten auf sinnlose Fragen zu suchen. Niemand ist Schuld an der Volatilität, auch Draghi nicht. Sie ist eine Eigenschaft der Preise an freien Märkten, zu der jeder Marktteilnehmer seinen Beitrag leistet.


Erstmals erschienen in pvm20 (Juni/Juli 2016)

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