Geld soll dienen, nicht regieren

„Diese Wirtschaft tötet.“ Selten dürfte ein Satz aus einem päpstlichen Sendschreiben in deutschen Medien höhere Wellen geschlagen haben als diese Worte aus dem „Evangelii gaudium“, das Papst Franziskus Ende 2013 veröffentlicht hat. Angesehene deutsche Journalisten unterstellten dem Papst in Kommentaren und Kolumnen einen Irrtum oder bezichtigten ihn eines „besonders grobschlächtigen Antikapitalismus“. Überzeugende Argumente für diese Behauptungen lieferten sie nicht.

Was ist ein gutes Geschäft? Wodurch zeichnet sich ein gutes Investment aus? Wenn Unternehmer oder Investoren Antworten auf solche Fragen suchen, orientieren sie sich dabei in der Regel nicht an ethischen oder moralischen Kriterien, sondern an ökonomischen Fakten, die sich oft in einfachen Zahlen wie Gewinnen oder Renditen ausdrücken lassen. „Gut“ ist in diesem Sinne meist ein bloßes Synonym für hohe Gewinne oder Renditen und sagt nichts aus über die Qualität oder Art der zugrunde liegenden Geschäfte oder Investitionen. Gerade diese Aspekte gewinnen aber stark an Bedeutung, wenn man beurteilen möchte, ob bestimmte unternehmerische Aktivitäten oder Investitionen in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext sinnvoll und wünschenswert sind.

Für eine in diesem Sinne gesellschaftlich zielgerichtete und planvolle Steuerung wirtschaftlicher Aktivitäten sind ethische und moralische Kriterien unverzichtbar. Insofern ist es auch für Unternehmer und Investoren wichtig, ihr wirtschaftliches Handeln aus einer ethischen Perspektive zu beurteilen – beispielsweise aus der Perspektive einer christlichen Ethik, in deren Tradition sich die westlichen Industrienationen entwickelten und zu der sie sich meist auch heute noch offen bekennen.

Die wahre soziale Ungleichheit

Eine solche Beurteilung hat Papst Franziskus Ende 2013 in seinem Apostolischen Schreiben „Evangelii gaudium“ für die gesamtgesellschaftliche Ebene vorgenommen. Das Ergebnis fällt eindeutig aus: Die gegenwärtige Wirtschaftsweise ist seiner Auffassung nach nicht mit einer Ethik vereinbar, die sich am Leben und Wirken Jesu Christi orientiert. Der zumindest in Deutschland wohl am meisten zitierte Satz aus dem Sendschreiben: „Diese Wirtschaft tötet.“ Zu finden ist er in Abschnitt 53 unter der Zwischenüberschrift „Nein zu einer Wirtschaft der Ausschließung“.

Da gerade dieser Satz für zahlreiche Schlagzeilen und kontroverse Diskussionen gesorgt hat, soll der entsprechende Absatz hier kurz zusammengefasst werden: „Ebenso wie das Gebot ‚Du sollst nicht töten‘ eine deutliche Grenze setzt, um den Wert des menschlichen Lebens zu sichern, müssen wir heute ein ‚Nein zu einer Wirtschaft der Ausschließung und der Disparität der Einkommen‘ sagen. Diese Wirtschaft tötet. Es ist unglaublich, dass es kein Aufsehen erregt, wenn ein alter Mann, der gezwungen ist, auf der Straße zu leben, erfriert, während eine Baisse um zwei Punkte in der Börse Schlagzeilen macht. Das ist Ausschließung“, schreibt Franziskus zu Beginn des erwähnten Abschnitts. Es sei nicht mehr zu tolerieren, dass Nahrungsmittel weggeworfen werden, während Menschen Hunger leiden. Das sei soziale Ungleichheit.

Heute spiele sich alles nach den Kriterien der Konkurrenzfähigkeit und nach dem Gesetz des Stärkeren ab. Hierdurch seien große Massen der Bevölkerung ausgeschlossen und an den Rand gedrängt: ohne Arbeit, ohne Aussichten, ohne Ausweg. „Der Mensch an sich wird wie ein Konsumgut betrachtet, das man gebrauchen und dann wegwerfen kann“, kritisiert der Papst. Dabei gehe es nicht mehr einfach um das Phänomen der Ausbeutung und der Unterdrückung, sondern um etwas Neues: Die betroffenen Menschenmassen seien nicht mehr an den Rand der Gesellschaft gedrängt, sondern stünden ganz außerhalb. Die Ausgeschlossenen sind nicht Ausgebeutete, sondern nur noch Müll und Abfall, so die drakonische Beschreibung des Pontifex.

Diese deutlichen Worte haben offenbar gesessen. Jedenfalls dürfte kaum ein Sendschreiben eines Kirchenoberhauptes in deutschen Medien mehr Wirbel ausgelöst haben als das „Evangelii gaudium“. Herausgeber, Chefredakteure und Ressortleiter wichtiger deutscher Zeitungen beließen es oft nicht dabei, ihre Leser über die Ansichten des Papstes zu informieren, sondern lieferten ausführliche Kommentare, die je nach ihrer eigenen Weltanschauung teils lobend, teils kritisch und teils ablehnend ausfielen. Bemerkenswert erscheinen insbesondere die Reaktionen einiger Fürsprecher der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung, die das Sendschreiben offenbar auf die Barrikaden getrieben hatte: „Heillose Kapitalismuskritik“ überschrieb beispielsweise der Herausgeber und ehemalige Chefredakteur der Zeit, Josef Joffe, seinen Kommentar. Untertitel: „Der Papst verteufelt den K.“, den Joffe angesichts dieses unerwarteten Frontalangriffs offenbar kaum noch beim Namen zu nennen wagte. Dennoch machte er keinen Hehl daraus, dass er diese Kritik für falsch und ungerechtfertigt hält: Gier und Exzess seien kein Monopol der Marktwirtschaft, und „im Gegensatz zum Feudalismus und Realsozialismus glänzt der demokratische K. als beispiellose Wohlstandsmaschine, die zugleich unendlich reformfähig ist“. Es sei nicht angemessen, ihn „als Moralideologie, als Böses an sich zu stilisieren“. Klüger sei es, ihn zu reparieren.

Zweifel an der Unfehlbarkeit

„Indem der Theologe, der Mann des Evangeliums, sich ökonomisch äußert, und dies in grundsätzlicher, nicht differenzierender Form, führt er Menschen in die Irre“, schrieb Marc Beise, Leiter der Wirtschaftsredaktion der Süddeutschen Zeitung, unter dem Titel „Der Papst irrt“. Franziskus bediene sich in seiner Verallgemeinerung Ressentiments „rund um den Globus, auch dort, wo die Dinge in Ordnung sind“. Damit erfasse er nicht den Kern des weltweit „herrschenden Systems“, weil die Welt beispielsweise in Deutschland anders aussehe. Heute gehe es der Bevölkerung in vielen Staaten besser als vor 20 Jahren. „Wo das nicht der Fall ist, zerstört nicht der Markt die Menschen, sondern es sind Korruption, Eigensinn, Cliquenwirtschaft“, schrieb Beise. Trotz aller Defizite seien diese Welt und die soziale Marktwirtschaft das Beste, was den Menschen bisher eingefallen ist. Deshalb müsse man um die Akzeptanz der Marktwirtschaft ringen, und zwar „ausgehend von einem klaren Bekenntnis zur Marktwirtschaft“. Dieses Bekenntnis lasse der Papst in seinem „Brandbrief“ vermissen. „Am Ende spricht eben doch der Theologe, nicht der Ökonom“, schrieb Beise, der Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre studiert hat.

Mit Nietzsche gegen Franziskus

Ein weiteres Beispiel für eine ablehnende Reaktion auf das päpstliche Schreiben lieferte Rainer Hank, seines Zeichens Leiter der Wirtschafts- und Finanzredaktion der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. In seinem Artikel „Die Kirche verachtet die Reichen“ betonte er, dass man das Sendschreiben „mindestens als eine Art ökonomische Grundsatzschrift des Heiligen Vaters“ behandeln müsse. Er warf Franziskus einen „besonders grobschlächtigen Antikapitalismus“ vor, dessen Kern jedoch mit der biblischen Tradition des Christentums konform gehe. So zeigten die Sozialenzykliken der Päpste von Leo XIII. bis Johannes Paul II. „ein gebrochenes Verhältnis zum Privateigentum“. Wo Besitz suspekt sei, könne auch kein Unternehmertum gedeihen. Unter Berufung auf Nietzsche schrieb Hank: „Das von der Religion erzeugte schlechte Gewissen kann den Erfolgreichen die Freude vergällen.“ Weil Franziskus die Ressentiments des Christentums gegenüber den Reichen teile, habe er den Armen „nur Barmherzigkeit und Almosen anzubieten“. „Dass es zur Überwindung der Armut Marktwirtschaft und Kapitalismus braucht, kann dieser Papst nicht sehen“, schloss er.

So unterschiedlich diese Kommentare in ihrem Duktus und teilweise auch in ihrer Argumentation sein mögen, haben sie doch eines gemeinsam: Sie enthalten durchweg gravierende Fehler, Fehlinterpretationen oder sogar falsche Unterstellungen. So ist es schlichtweg falsch, den Eindruck zu erwecken, es gehe dem Papst um eine Kapitalismuskritik wie sie in ökonomischen Diskursen üblich sein mag. Das sollte jeder verstehen können, der das Sendschreiben vollständig und aufmerksam liest, denn dort heißt es unter anderem: „Die Wirklichkeit steht über der Idee. Das schließt ein, verschiedene Formen der Verschleierung der Wirklichkeit zu vermeiden: die engelhaften Purismen, die Totalitarismen des Relativen, die in Erklärungen ausgedrückten Nominalismen, die mehr formalen als realen Projekte, die geschichtswidrigen Fundamentalismen, die Ethizismen ohne Güte, die Intellektualismen ohne Weisheit.“ Konsequenterweise tauchen die Begriffe „Kapitalismus“, „Kapital“ oder „Marktwirtschaft“ in den gut 250 Seiten der deutschen Version des Sendschreibens nicht ein einziges Mal auf.

Insofern ist auch Hanks Interpretation des Sendschreibens „als eine Art ökonomische Grundsatzschrift des Heiligen Vaters“ zu bezweifeln. Franziskus will sich vielmehr ausdrücklich „an die Christgläubigen wenden, um sie zu einer neuen Etappe der Evangelisierung einzuladen“, die von der Freude und Begeisterung über das Evangelium geprägt ist. Dabei wolle er nur „kurz und unter pastoralem Gesichtspunkt auf einige Aspekte der Wirklichkeit eingehen, welche die Dynamiken der missionarischen Erneuerung der Kirche anhalten oder schwächen können“. Sein Schreiben sei auch „kein Dokument über soziale Fragen“, so Franziskus, der weiter ausführt, dass man, um über jene verschiedenen Themenkreise nachzudenken, mit dem Kompendium der Soziallehre der Kirche über ein sehr geeignetes Instrument verfüge, „dessen Gebrauch und Studium ich nachdrücklich empfehle“. Außerdem besitze weder er noch die Kirche das Monopol für die Interpretation der sozialen Wirklichkeit oder für Vorschläge zur Lösung der gegenwärtigen Probleme.

Aufruf zur uneigennützigen Solidarität

Es gehört auch eine Menge Unverständnis dazu, das Sendschreiben als eine Bestätigung für Ressentiments gegenüber den Reichen und als Beleg dafür zu betrachten, dass die Kirche „die Reichen“ verachtet. Tatsächlich schreibt der Papst: „Das Geld muss dienen und nicht regieren! Der Papst liebt alle, Reiche und Arme, doch im Namen Christi hat er die Pflicht, daran zu erinnern, dass die Reichen den Armen helfen, sie achten und fördern müssen. Ich ermahne euch zur uneigennützigen Solidarität und zu einer Rückkehr von Wirtschaft und Finanzleben zu einer Ethik zugunsten des Menschen.“ Und genau diese Orientierung am Menschen ist es, die Franziskus keinesfalls nur in der Wirtschaft, sondern in vielen Bereichen der Gesellschaft und auch in Teilen seiner eigenen Kirche vermisst und einfordert. Wer in solchen Äußerungen oder der Kritik des Papstes an einem „Fetischismus des Geldes“, an einer „Diktatur einer Wirtschaft ohne Gesicht und ohne ein wirklich menschliches Ziel“ oder an einer „Globalisierung der Gleichgültigkeit“ eine „Verachtung der Reichen“ sieht, hat möglicherweise die Fähigkeit verloren, zwischen Menschen, ihrem Besitz und ihrer gesellschaftlichen Rolle zu unterscheiden.

Was Hank als „ein gebrochenes Verhältnis zum Privateigentum“ bezeichnet, klingt bei Franziskus etwa wie folgt: „Das Wort ‚Solidarität‘ hat sich ein wenig abgenutzt und wird manchmal falsch interpretiert, doch es bezeichnet viel mehr als einige gelegentliche großherzige Taten. Es erfordert, eine neue Mentalität zu schaffen, die in den Begriffen der Gemeinschaft und des Vorrangs des Lebens aller gegenüber der Aneignung der Güter durch einige wenige denkt.“ Solidarität sei eine spontane Reaktion dessen, der die soziale Funktion des Eigentums und die universale Bestimmung der Güter als Wirklichkeiten erkennt, die älter sind als der Privatbesitz. Der private Besitz von Gütern rechtfertige sich dadurch, dass man sie so hütet und mehrt, dass sie dem Gemeinwohl besser dienen. Soziale Forderungen, die mit der Verteilung der Einkommen, der sozialen Einbeziehung der Armen und den Menschenrechten zusammenhängen, dürften nicht unter dem Vorwand zum Schweigen gebracht werden, einen Konsens auf dem Papier zu haben oder einen oberflächlichen Frieden für eine glückliche Minderheit zu schaffen. „Die Würde des Menschen und das Gemeingut gelten mehr als das Wohlbefinden einiger, die nicht auf ihre Privilegien verzichten wollen. Wenn jene Werte bedroht sind, muss eine prophetische Stimme erhoben werden“, predigt Franziskus.

„Die Würde jedes Menschen und das Gemeinwohl sind Fragen, die die gesamte Wirtschaftspolitik strukturieren müssten, doch manchmal scheinen sie von außen hinzugefügte Anhänge zu sein, um eine politische Rede zu vervollständigen, ohne Perspektiven oder Programme für eine wirklich ganzheitliche Entwicklung“, heißt es an anderer Stelle des Sendschreibens. Mittlerweile sei es manchen Menschen lästig, wenn man von Ethik, weltweiter Solidarität, einer gerechten Verteilung der Güter, dem Erhalt von Arbeitsplätzen, der Würde der Schwachen oder gar von einem Gott spricht, der einen Einsatz für die Gerechtigkeit fordert. „Die bequeme Gleichgültigkeit gegenüber diesen Fragen entleert unser Leben und unsere Worte jeglicher Bedeutung“, mahnt Franziskus. In diesem Zusammenhang bezeichnet er die Tätigkeit eines Unternehmers als „eine edle Arbeit, vorausgesetzt, dass er sich von einer umfassenderen Bedeutung des Lebens hinterfragen lässt; das ermöglicht ihm, mit seinem Bemühen, die Güter dieser Welt zu mehren und für alle zugänglicher zu machen, wirklich dem Gemeinwohl zu dienen“.

Die „Übel unserer Welt“ als Herausforderung

Ein authentischer Glaube sei niemals bequem und individualistisch und schließe immer „den tiefen Wunsch ein, die Welt zu verändern, Werte zu übermitteln, nach unserer Erdenwanderung etwas Besseres zu hinterlassen“. Die große Gefahr der Welt von heute mit ihrem vielfältigen und erdrückenden Konsumangebot bestehe in einer „individualistischen Traurigkeit, die aus einem bequemen, begehrlichen Herzen hervorgeht, aus der krankhaften Suche nach oberflächlichen Vergnügungen, aus einer abgeschotteten Geisteshaltung“. Wenn das innere Leben sich in den eigenen Interessen verschließe, gebe es keinen Raum mehr für die anderen und entwickle sich keine Begeisterung dafür, Gutes zu tun. Auch viele Gläubige erlägen dieser Gefahr und würden zu gereizten, unzufriedenen, empfindungslosen Menschen. „Das ist nicht die Wahl eines würdigen und erfüllten Lebens, das ist nicht Gottes Wille für uns, das ist nicht das Leben im Geist, das aus dem Herzen des auferstandenen Christus hervorsprudelt“, betont der Papst. Sein Wort sei nicht das eines Feindes, noch das eines Gegners. Es gehe ihm vielmehr darum, dafür zu sorgen, dass diejenigen, „die Sklaven einer individualistischen, gleichgültigen und egoistischen Mentalität sind, sich von jenen unwürdigen Fesseln befreien und eine Art zu leben und zu denken erreichen können, die menschlicher, edler und fruchtbarer ist und ihrer Erdenwanderung Würde verleiht“.

Es ist schwer nachzuvollziehen, wie man ein Schreiben wie „Evangelii gaudium“ als „eine Art ökonomische Grundsatzschrift des Heiligen Vaters“ verstehen oder als grobschlächtige und undifferenzierte „Kapitalismuskritik“ missverstehen kann. Sicher: Das Schreiben enthält scharfe, auf den Grundlagen einer christlichen Ethik basierende Kritik an gegenwärtigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Realitäten. Es ist aber ausdrücklich und ganz offensichtlich keine akademische Abhandlung über die Vor- und Nachteile irgendwelcher Weltanschauungen, Weltmodelle, Ideologien oder Ismen.

Wer die Welt oder auch nur unser Wirtschaftssystem wirklich verbessern möchte, muss sich viel Mühe geben. Und er oder sie wird eine Motivation benötigen, die Papst Franziskus den gläubigen Christen mit seinem Sendschreiben liefern möchte. „Die Freude aus dem Evangelium kann nichts und niemand uns je nehmen“, schreibt er dort mit Verweis auf das Johannes-Evangelium. „Die Übel unserer Welt – und die der Kirche – dürften niemals Entschuldigungen sein, um unseren Einsatz und unseren Eifer zu verringern. Betrachten wir sie als Herausforderungen, um zu wachsen.“


Erstmals erschienen in pvm13 (April/Mai 2015)

Externe Links:
Papst Franziskus: Evangelii Gaudium

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert